Gastbeitrag Frankfurter Rundschau: EU muss Indigenen in Brasilien beistehen

Entwaldungsfreie Lieferketten schützen Einheimische und den Regenwald. Weitere Initiativen sind zwingend.

Puyr Tembé redet sich in Rage und bricht irgendwann in Tränen aus. Wir sitzen mit Vertreterinnen und Vertretern von indigenen Gemeinschaften im Dorf Cobra Grande am Ufer des Flusses Tapajós in Brasilien. Ein paar Kilometer weiter fließt der mächtige Amazonas. Puyr ist Sprecherin der Feripa, des Dachverbands der indigenen Gemeinschaften aus der Region.

Um uns herum frisst sich die Abholzung immer weiter an das Dorf der Cobra Grande heran. Der prächtige Regenwald und jahrhundertealte Bäume müssen dem Hunger der Welt nach Soja für die Massentierhaltung weichen. Puyr erklärt uns, dass sich die Situation unter dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro drastisch verschlimmert hat. Die Abholzung hat in den ersten Monaten des Jahres 2022 erneut Rekordwerte erreicht. Eine Konsequenz von Bolsonaros desaströser Politik.

All die Daten und Fakten sind mir als Vizepräsidentin der Brasilien-Delegation des Europäischen Parlamentes wohlbekannt. Trotzdem trifft mich die direkte Konfrontation mit den Auswirkungen vor Ort in Brasilien hart. Ich schaue in verzweifelte, aber auch kämpferische Gesichter.

Der Lebensraum der Indigenen steht nicht nur wegen der Abholzung unter Druck. In der Region rund um Santarém, der Hauptstadt des Staates Pará, gibt es unzählige illegale Goldminen im Amazonas. Das Quecksilber, das zur Goldgewinnung genutzt wird, landet in den Flüssen, und diese wiederum ernähren die indigenen Gemeinschaften. In den Dörfer um uns herum leiden die Menschen an Quecksilbervergiftungen.

Das Soja, der Mais, das Holz und auch das Gold – alle diese Produkte werden im großen Stil nach Europa exportiert. Das Fleisch aus dem Discounter – mit Sicherheit wurde das Rind mit brasilianischem Soja gefüttert. Der Stuhl aus Tropenholz, der doch sogar ein Siegel hat – sehr wahrscheinlich wurde das Holz illegal geschlagen.

Die Europäische Union steht in der Verantwortung, der Gewalt gegenüber den Indigenen (den die Betroffenen selbst einen Genozid nennen) ein Ende zu setzen und den Amazonas, die grüne Lunge unseres Planeten, zu erhalten. Das Europäische Parlament hat genau das kürzlich in einer von mir initiierten Resolution gefordert.

Die Chancen stehen gut, dass der brailianische Präsident Bolsonaro bei den anstehenden Wahlen im Oktober abgewählt wird. Die Anzeichen mehren sich, dass er einen möglichen Verlust nicht anerkennen wird und einen Coup im Stile des Trump’schen Sturms auf das Kapitol plant. Die Europäische Union und auch die deutsche Bundesregierung müssen die Wahlen ganz genau beobachten.

Es braucht im Falle einer Niederlage von Bolsonaro mehr internationalen Druck, aber auch Kooperationsangebote für eine mögliche neue brasilianische Regierung, um die Lage im Amazonas und anderen Ökosystemen in den Griff zu bekommen. Die Reformen der Umweltgesetze unter Bolsonaro müssen umgehend rückgängig gemacht und jene gestärkt werden.

Die zuständigen Behörden brauchen eine ordentliche Ausstattung, denn nur so kann den zahlreichen illegalen Aktivitäten im Regenwald der Riegel vorgeschoben werden. Bolsonaro hatte sie finanziell ausbluten lassen. Eine neue Regierung muss so schnell wie möglich mehr indigenes Land ausweisen, denn das ist der beste Schutz für die Gemeinschaften, aber auch für den Erhalt des Amazonas. Unter Bolsonaro kam diese Politik der „Demarkation“ komplett zum Erliegen.

Das Gesetz zu entwaldungsfreien Lieferketten, das wir gerade im Europäischen Parlament verhandeln, soll den Import von Produkten aus entwaldeten Flächen unterbinden. Es ist sicherlich ein Meilenstein im Kampf gegen die weltweite Entwaldung.

Klar ist allerdings: Ohne verbesserte Überwachungssysteme mit Satelliten, GPS-Daten, Drohnen und einigem anderen mehr wird das Gesetz nicht den gewünschten Effekt haben. Denn so viele Zertifikate und Dokumente werden hier einfach gefälscht. Einer der indigenen Führer, die wir treffen, bringt es auf den Punkt: „Europa muss den Import von Soja aus Brasilien unterbinden, bis die Abholzung gestoppt ist.“

Nach einigen Stunden der Diskussion mit den Indigenen im Schatten großer, schöner Bäume verabschieden wir uns. Als ich Puyr die Hand schütteln und sie umarmen will, sehe ich ihr T-Shirt. Auf diesem steht: „Resistir – lutar – existir“ – „Widerstand leisten – kämpfen – leben/existieren“. Es geht um viel, sehr viel.

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