Studie zur Einstellung der Ost- und Westdeutschen zur Europäischen Union

Im Jahr 2020 feiert Deutschland das dreißigste Jahr seiner friedlichen Wiedervereinigung. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Fall der Berliner Mauer wurde das weitere europäische Zusammenwachsen möglich.

Darum wollte ich mehr über die aktuellen Einstellungen der Deutschen zur Europäischen Union erfahren. Wo stehen wir – als Ost und West und gesamte Bundesrepublik? Wo muss die Europäische Union besser werden? Wofür wird sie geschätzt? Diesen Fragen wollte ich auf den Grund gehen.

Es freut es mich zu sagen, dass weder die Ost- noch die Westdeutschen europamüde sind. Ganz im Gegenteil zeigen sich ein großer Zuspruch und eine klare Erwartungshaltung an die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten.
Mehr Zusammenhalt wünschen sich die Menschen nicht für Deutschland, sondern auch für die Europäische Union. Eine Aussage, die mich sehr erfreut, denn dies zeigt erneut, dass der deutschen Wiedervereinigung unweigerlich immer auch der Wunsch nach europäischer Integration innewohnt.

Für die Fraktion Greens/EFA habe ich das Meinungsforschungsunternehmen Civey beauftragt. Die übergeordnete Zielrichtung der Befragung war es, herauszufinden, ob 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland hinsichtlich der Wahrnehmung der Mitgliedschaft in der EU bestehen.

Civey hat 5000 Personen zwischen dem 16. und dem 21.09.2020 befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren. Der statistische Fehler der Gesamtergebnisse liegt bei 2.5 Prozent.

Die komplette Studie gibt es hier zum Download.

Die wichtigsten Ergebnisse der Befragung:

  • Dreißig Jahre nach der friedlichen Revolution und der Deutschen Einheit sieht eine Mehrheit in Deutschland Vorteile in der EU-Mitgliedschaft. Es herrscht weitestgehend Einigkeit in der Frage, dass sich die EU mehr um die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten kümmern soll, allerdings gibt es hier ähnlich wie bei den generellen Zustimmungswerten zur EU merkliche Unterschiede zwischen Ost und West.
  • Zudem wünschen sich viele Bürger*innen in Deutschland, dass in den Politikfeldern Migration, Klima und Außenpolitik zukünftig verstärkt und in größerem Umfang auf europäischer Ebene entschieden werden soll. Das heißt: Weder Ost, noch West sind integrationsmüde.
  • Allerdings bewerten die Menschen in Ostdeutschland die Europäische Union und den Integrationsprozess zurückhaltender als im Westen. Es wird deutlich, dass im Osten der Bundesrepublik noch zahlreiche Bemühungen unternommen werden müssen, um die Errungenschaften der Europäischen Union, aber auch praktische Partizipationsmöglichkeiten für die Menschen in Ostdeutschland erfahrbar zu machen. Es gibt trotz alledem Grund zur Zuversicht: Eine Mehrheit der Ostdeutschen sieht mehr Vorteile in der Mitgliedschaft in der EU, als Nachteile. Ein erheblicher Teil der Menschen in Ostdeutschland sieht Reisefreiheit (58,9 %) und Friedenssicherung (48,6 %) als große Errungenschaft des geeinten Europas.
  • Eine Mehrheit der Ostdeutschen wünscht sich sogar eine stärkere direkte Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen in Europa: 66 % der Ostdeutschen sprechen sich für Volksabstimmungen auf europäischer Ebene aus, was 13 Prozentpunkte mehr als im Westen des Landes sind.
  • Besonders spannend ist, dass als eine der drei größten Schwächen der EU – noch vor den Klassikern der Bürokratie und Intransparenz – mangelnde Solidarität unter den Mitgliedstaaten am häufigsten genannt wird. Es zeigt deutlich, dass ein Großteil der Deutschen eine stärkere, Politikfeld übergreifende Zusammenarbeit zwischen den Hauptstädten befürwortet. Insofern kann sich mehr Einheit, Absprache und Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten positiv in Bezug auf die Akzeptanz der EU sowie einen vertieften Integrationsprozess auswirken.
  • Geteilt ist das Land in der Frage zu Sanktionen gegen die russische Regierung. Bundesweit befürworten 42,1 % der Befragten nach dem Giftanschlag auf den Kreml-Kritiker Alexeij Nawalny neue Sanktionen, 44,6 % lehnen dies ab. In der Befürwortung von Sanktionen zeigt sich ein Unterschied zwischen Ost und West. 63,9 % der Ostdeutschen sprechen sich in der Erhebung gegen neue Sanktionen gegen die russische Regierung aus (West 39,6 %). Im Westen stimmen 46,6 % der Befragten möglichen Sanktionen zu, was einen deutlichen Unterschied zu der Zustimmung der Ostdeutschen (24,8 %) darstellt.

 

Mitgliedschaft überzeugt mit Vorteilen

Über die Frage ob die Mitgliedschaft in der Europäischen Union mehr Vorteile oder Nachteile mit sich bringt, besteht insgesamt Einigkeit über die Vorteile (Gesamt: 63,1 %, West: 66,1 %, Ost: 51,9 %).

Eine Minderheit sieht die Nachteile überwiegen (Gesamt: 25,9 %, West: 23,8 %, Ost: 33,9 %).

Es fällt auf, dass sich auch ein Großteil der Menschen in den so genannten neuen Bundesländern positiv zur EU-Mitgliedschaft positioniert, allerdings ist der Unterschied zwischen West und Ost deutlich zu erkennen.

 

 

Untergliedert nach Altersgruppen zeigt sich, dass mit 69,1 % die Gruppe der 18 bis 29-Jährigen vorne steht, wenn es um die Wahrnehmung der Vorteile der Mitgliedschaft geht. Dieser Gruppe folgen die über 65-Jährigen mit 65,8 %. Am wenigsten, aber dennoch mehrheitlich positiv gestimmt, sind die 50 bis 64-Jährigen mit 58,2 %.

 

 

Blickt man auf die Anhänger*innen der im Bundestag vertretenen Parteien, sehen vor allem die Anhänger*innen der Grünen mit 85,5 % die Vorteile in der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. 80,4 % der befragten AfD-Anhänger*innen sehen hierin Nachteile.

 

 

Freier Personen- und Warenverkehr
und Friedenssicherung als größte Vorteile

Auf die Frage der drei größten Errungenschaften der Europäischen Union äußern sich die Befragten in Ost und West ähnlich. So nennen sie den freien Personenverkehr (Gesamt: 64,5 %, West: 66,0 %, Ost: 58,9 %), den freien Warenverkehr (Gesamt: 63,9 %, West: 65,7 %, Ost: 57,0 %) sowie die Friedenssicherung in Europa (Gesamt: 53,2 %, West: 54,4 %, Ost: 48,6 %).

 

 

 

Dabei schätzen gerade die 40 bis 49-Jährigen mit 69,4 % den freien Personenverkehr besonders. Der Zuspruch befindet sich generell auf einem hohen Niveau. Unter den Altersgruppen bewertet die Gruppe der 50 bis 64-Jährigen den freien Personenverkehr mit 59,5 % am wenigsten positiv.

Der freie Warenverkehr wird fast durch alle Altersgruppen im gleichen Maße mehrheitlich als großer Vorteil gesehen. Die 30 bis 39-Jährigen sehen hier am meisten einen Vorteil, am wenigsten tun dies die 50 bis 64-Jährigen.

Die Europäische Union als Friedenssicherungsprojekt wird übergreifend als Vorteil gesehen. Am meisten tun dies mit 57,0 % die über 65-Jährigen, am wenigsten die 18 bis 29-Jährigen mit 48,2 %.

 

 

Mehr Entscheidungen auf EU-Ebene

Nach ihrer Meinung gefragt, bei welchen drei Themen mehr Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden sollten, antworteten Ost- und Westdeutsche mit einer klaren Präferenz für Migrationspolitik (Gesamt: 64,2 %, West: 65,0 %, Ost: 61,4 %), außerdem für Klimaschutz (Gesamt: 47,4 %, West: 48,4 %, Ost: 43,6 %) sowie Außenpolitik und Verteidigung (Gesamt: 47,3 %, West: 48,9 %, Ost: 41,1 %). Deutlich wird bei dieser Frage, dass es sowohl im Osten als auch im Westen eine deutliche Mehrheit dafür gibt, bei den „großen“ Themen stärker auf europäische Zusammenarbeit zu setzen und dass die Deutschen – in Ost und West – keineswegs integrationsmüde sind.

 

Migrationspolitik

Mit 66,5 % wünscht sich am stärksten die Altersgruppe über 65 eine abgestimmte EU-Migrationspolitik. Mehrheitlich wichtig ist dieses Thema auch den 18 bis 29-jährigen Befragten, denen allerdings – verglichen mit den anderen Altersgruppen – das Thema mit 58,3 % weniger wichtig ist.

Klimaschutz

Bezogen auf die Altersstruktur sind es gerade die 18 bis 29-jährigen Befragten, die mit 54,2 % höheren Wert auf den Klimaschutz auf EU-Ebene legen. Sie bilden damit die einzige Altersgruppe deren Wert die 50 % Marke übersteigt. Mit 41,6 % sind die 30 bis 39-Jährigen diejenigen, denen Klimaschutz auf EU-Ebene weniger wichtig ist als den anderen Altersgruppen.

Außenpolitik & Verteidigung

Für mehr europäischen Entscheidungen m Bereich Außen- und Verteidigungspolitik sprechen sich mit 54,3 % die 40 bis 40-jährigen Befragten aus. Sie kommen als einzige Gruppe über die 50 % Marke. Den Abschluss bilden mit 32,8 % die 18 bis 29-Jährigen.

 

EU soll sich stärker um die Durchsetzung der
Rechtsstaatlichkeit kümmern

Drei Viertel der Befragten ist der Meinung, dass die EU sich mehr um die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten kümmern muss. So stimmten insgesamt 75,9 % dieser Aussage zu. 15,8 % lehnten diese Aussage ab. Im Osten wird dieser Aussage mit 64,9 % zugestimmt und mit 21,3 % wird sie abgelehnt. Westdeutschland stimmt dieser Aussage mit 78,9 Prozent zu, lehnt sie aber mit 14,3 % ab. Es sticht ins Auge, dass sich ein überwältigender Teil der Befragten eine stärkere Rolle der EU bei der Sicherung von Rechtsstaatlichkeit wünscht. Ähnlich wie bei den generellen Vorteilen einer EU-Mitgliedschaft gibt es allerdings deutliche Unterschiede zwischen Ost und West.

 

Aufgegliedert nach Wahlabsichten für den Bund stimmen fast gleichauf mit 93,3 % die SPD-Wähler*innen und mit 92,7 % die Grünen-Wähler*innen dieser Aussage zu. 60,7 % der AfD Wähler*innen lehnen diese Aussage hingegen ab.

 

Mehr Bürgerbeteiligung auf EU-Ebene

Nach ihrer Meinung gefragt, welche drei Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung gestärkt oder eingeführt werden sollten, antworteten Ost- und Westdeutsche mit einer Präferenz für Volksabstimmungen (Gesamt: 56,0 %, West: 53,4 %, Ost: 66,0 %), für ein einheitliches Wahlsystem zur Europawahl (Gesamt: 50,2 %, West: 52,6 %, Ost: 41,1 %) und außerdem für die Direktwahl des/der Kommissionspräsident*in (Gesamt: 31,7 %, West: 31,8 %, Ost: 31,5 %).

Signifikant dabei ist der starke Wunsch der Ostdeutschen nach Volksabstimmungen.

 

Mangelnde Solidarität unter Mitgliedsstaaten
als größte Schwäche der Europäischen Union

Nach den drei größten Schwächen der Europäischen Union gefragt, kritisierten die Befragten die mangelnde Solidarität unter den Mitgliedsstaaten (Gesamt: 60,2 %, West: 63,1 %, Ost: 49,3 %), Bürokratie (Gesamt: 55,8 %, West: 53,7 %, Ost: 63,4 %) sowie intransparente Entscheidungsverfahren (Gesamt: 38,8 %, West: 38,2 %, Ost: 41,4 %). Hier ist kein signifikanter Unterschied zwischen Ost und West zu erkennen. Es fällt auf, dass die Befragten insbesondere die Rollen der Hauptstädte und die sich in den letzten Jahren aufgetanen Gräben, z.B. in der Migrationspolitik, kritisch sehen.

 

Keine Einigkeit über neue Sanktionen der
EU gegen die russische Regierung

Keine Einigkeit herrscht in der Frage zu neuen Sanktionen der Europäischen Union gegenüber der russischen Regierung. So stimmen im Bundesgebiet 42,1 % für neue Sanktionen, allerdings lehnen 44,6 % diese Aussage ab.

Eine klare Uneinigkeit in dieser Ansicht lässt sich zwischen Ost- und Westdeutschland ablesen. Die westdeutschen Befragten stimmen dieser Aussage mit 46,6 % zu und lehnen sie zu 39,6 % ab. Völlig gegenteilig zeigt sich das Stimmungsbild der ostdeutschen Befragten. Neue Sanktionen werden hier nur von 24,8 % begrüßt, aber von 63,9 deutlich abgelehnt