Gastbeitrag mit Terry Reintke in der WELT: Eine Pause bei neuen EU-Richtlinien würde uns schaden
Führende CDU-Politiker lehnen neue EU-Gesetzesvorhaben ab, damit von den aktuellen Krisen gebeutelte Betriebe nicht noch mehr leiden. Dabei ist es genau dieser Denkansatz, der aktuelle Probleme erst ermöglicht hat. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr EU-Richtlinien.
Vor kurzem haben Friedrich Merz und Daniel Caspary an dieser Stelle für ein „Belastungsmoratorium“ plädiert: Wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine sei jetzt nicht die Zeit für neue EU-Gesetzesvorhaben, die den Druck auf die europäische Wirtschaft und kleine und mittelständische Betriebe erhöhten. Wir möchten in diesem Beitrag erklären, warum das Gegenteil der Fall ist und vier Gründe dafür liefern, warum uns eine ambitionierte EU-Gesetzgebung schneller aus der Krise holt.
Erstens verwechseln die beiden Kollegen von der CDU Ursache und Wirkung. Die derzeitigen Krisen haben auch deswegen dieses dramatische Ausmaß erreicht, weil wir in der Vergangenheit nicht entschlossen genug den grünen Umbau unserer Wirtschaft vorangetrieben haben. Der EU Green Deal ist jetzt nötiger denn je.
Jahrelang haben die Regierungen unter Angela Merkel die Energiewende verschlafen. Das Ergebnis: Unsere anhaltende Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen hat die aktuelle Energiekrise ausgelöst. Genau aus dieser Falle wird uns der Green Deal herausführen.
Jahrelang betrieben Konservative eine Agrarpolitik, die unter der „Wachse oder weiche“-Maxime nicht nur Höfesterben, sondern auch hohen Pestizideinsatz, Bodendegradierung und geringere Erträge zur Folge hat. Das Ergebnis: unsere Abhängigkeit von Soja-Importen für die Massentierhaltung statt echter Ernährungssouveränität durch regionale Wertschöpfung. Genau hier setzt der Green Deal an.
Daher sind wir der Meinung: Der schnelle Ausbau Erneuerbarer Energien, das Verbot von Giften, Gesetze für saubere Böden, die Strafbarkeit von Umweltverbrechen und Gesetze für saubere Luft sind Teil der Lösung, nicht das Problem. Der zitierte Leitspruch „Go big on the big things, small on the small things“ entlarvt, als was Merz und Caspary Klimaschutz und den nachhaltigen Umbau unserer Wirtschaft sehen: als ein nice-to-have, wenn wir gerade Zeit dafür haben.
Dabei ist der Kampf gegen die Klimakrise die zentrale Frage für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft, die Sicherung unseres Wohlstands und, ja, das Überleben der Menschheit. Gerade in Zeiten der multiplen Krisen kann es daher kein „Weiter so“ geben. Mehr denn je ist jetzt die Zeit, unsere Anstrengungen zu verdoppeln, den Green Deal voranzutreiben und die Klimaneutralität unseres Kontinents Wirklichkeit werden zu lassen.
Zweitens fragen wir uns, was die beiden CDU-Politiker mit „klein“ eigentlich meinen? Gerade haben wir beispielsweise im Europäischen Parlament das einheitliche Ladekabel beschlossen. In den Kategorien, in denen Merz und Caspary denken, ist das vielleicht klein. Aber wenn Tausende Tonnen Elektroschrott eingespart werden und wir so unsere Rohstoffabhängigkeit von Autokratien verringern, ist so ein Gesetz ein wichtiger Baustein in der europäischen strategischen Autonomie.
Ist es ein „kleines“ Gesetz, was man jetzt mal auf die lange Bank schieben kann, wenn wir in der EU das erste globale Gesetz zur Regulierung der Social-Media- Plattformen schaffen? Wenn wir Hass, Hetze und Desinformation im Netz bekämpfen, wo aktuell Putins Troll-Armee von nicht vorhandenen Regeln profitiert? Genau das ist die Stärke der EU, dass wir in kleinen Schritten die Integration unseres Kontinents vorantreiben und grenzüberschreitend Probleme lösen.
Wettbewerbsfähig bleiben
Drittens stellen wir fest: Unsere Unternehmen profitieren, wenn Nachhaltigkeit zur Norm wird, wenn sie zur Grundlage ihres Geschäftsmodells wird. Wenn Produkte und Dienstleistungen Made in Europe überall auf der Welt für Sicherheit, Qualität und geringe Emissionen stehen, haben sie einen globalen Wettbewerbsvorteil, denn „grüne“ Produkte sind mehr und mehr gefragt. Es ist unsere Aufgabe als EU, die politischen Rahmenbedingungen zu setzen und unseren Unternehmen die Rechtssicherheit zu geben, die sie brauchen.
In der Automobilindustrie haben wir nicht früh genug die Zeichen der Zeit gelesen. Das ist heute unser Nachteil. Zukunftsgerichtete Regeln in einem so großen Markt wie der EU können weltweit den Ton angeben und gerade dadurch unsere Unternehmen zu globalen Spitzenreitern machen. Und das wollen wir sein, um jetzt, aber auch in der Zukunft wettbewerbsfähig zu sein.
Immer mehr Unternehmen sind längst auf diesem Weg in die Transformation, und wir müssen sie darin unterstützen, unsere gemeinsamen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Immer mehr Unternehmen bereiten sich seit Jahren auf den Green Deal vor und wollen Planungssicherheit – jetzt eine Kehrtwende zu vollziehen, wäre deshalb kontraproduktiv.
Viertens: Ganz besonders gern wird das Lieferkettengesetz und neuerdings auch das gerade von der Kommission vorgeschlagene Importverbot für Produkte aus Zwangsarbeit für ein „Belastungsmoratorium“ angeführt. Wir halten das für zynisch. Gerade in der Pandemie haben sich Armut und die Situation von Arbeitskräften in Entwicklungsländern rasant verschlechtert.
Mittlerweile sind fast 28 Millionen Menschen weltweit in Zwangsarbeit. Wollen wir jetzt wirklich neue Regeln für Unternehmen gegen die Rechte dieser Menschen ausspielen? Das kann als Europäische Union nicht unser Anspruch sein. Unser Anspruch muss vielmehr sein, die Zusammenhänge zu sehen: Die Klimakrise potenziert die andere.
Anna Cavazzini ist Vorsitzende des Binnenmarktausschusses des Europaparlaments. Terry Reintke ist Fraktionschefin der Grünen im EU-Parlament.